Geschlechtergerechte Sprache – warum sie wichtig ist
Ein Beitrag von Carla Becker
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Geschlechtergerechte Sprache – ein Blick in den öffentlichen Diskurs
Wenn Mensch sich Kommentare unter YouTube-Videos zum Thema „Geschlechtergerechte Sprache“ durchliest, scheint sich ihm_ihr die ganze Welt gegen geschlechtergerechte Sprache verschworen zu haben.
Zum einen wird sich unter zahlreichen Videos, wie bspw. in der Kommentarspalte unter dem Video „Politisch korrekte Sprache - Muss das sein? I 13 FRAGEN“ von den ZDFheute Nachrichten über die fehlende Sinnhaftigkeit von geschlechtergerechter Sprache ausgelassen.
„Total abgehobene Diskussion, die einfach nur zeigt, dass viele Leute massiv nach einem Sinn im Leben suchen und den im sinnentleerten Aktivismus finden“, heißt es dort.
Eine weitere Person schreibt:
„Ich persönlich finde die ganze Sache mit dem Gendern unnötig und übertrieben und auch total anstrengend, einen gegenderten Text zu lesen oder jemandem zuzuhören. Vor lauter Sternchen, Unterstrichen oder sonstigen Sonderzeichen und Sprechpausen zwischen den Wörtern geht doch der jeweilige eigentliche Inhalt verloren“
In der Kommentarspalte des Videos „Gendern: Eure drei Top-Argumente dagegen“ von der PULS Reportage heißt es:
„"Ein Chirurg" ist ein Mann. "Eine Chirurgin" eine Frau. "Die Chirurgen" sind alle.“
Und schließlich:
„Solche Videos sind der Grund dafür, dass ich an meiner Sprache garnichts ändern werde.“
Diese Meinungen scheinen die Debatte um geschlechtergerechte Sprache im Internet vollkommen einzunehmen. Es wird darauf beharrt, dass die deutsche Sprache nicht zu verändern und das generische Maskulinum das Nonplusultra sei. Doch was ist dieses ominöse generische Maskulinum eigentlich?
Das generische Maskulinum – das Nonplusultra?
In der deutschen Sprache wird das generische Maskulinum verwendet, „wenn Bezeichnungen für männliche Personen auch zur Bezeichnung von allgemein Menschlichem, von gemischten Gruppen, von Personen unbekanntem oder unspezifiziertem Geschlechts verwendet werden“ (Braun 1996, S.54). Die maskuline Form soll andersgeschlechtliche Personen miteinbeziehen und repräsentieren. Sprache wirkt jedoch oft unterbewusst.
So ist die Assoziation beim Hören oder Lesen des generischen Maskulinums meist männlich, andersgeschlechtliche Menschen können zwar von dem*der Sender*in mitgemeint sein, werden von dem*der Empfänger*in allerdings nicht unbedingt mitbedacht. Es besteht die Gefahr, dass andersgeschlechtliche Personen sich nicht angesprochen fühlen und allein durch die Wortwahl entmutigt und ausgeschlossen werden. „"Die Chirurgen"“ sind eben in der Realität nicht „alle“, sondern dieser Ausdruck verkörpert das jahrhundertealte Bild, dass nicht-männliche Menschen Männern (sprachlich) unterzuordnen sein.
Geschlechtergerechte Sprache – eine gute Alternative?
Geschlechtergerechte Sprache soll eine Alternative zu dieser Sprachform darstellen. Das generische Maskulinum, umgangssprachlich auch „grammatikalisches Geschlecht“ genannt, wird in den direkten Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen und biologischen Geschlecht (männlich) gestellt, weshalb es nicht repräsentativ für alle Geschlechter genutzt wird. So soll dem sprachlichen „Unsichtbarmachen“ von andersgeschlechtlichen Personen entgegengewirkt werden, da diese nicht länger nur als Abweichung der „männlichen Norm“ „mitgemeint“ sind, sondern klar benannt werden.
Und wie funktionierts?
Formen der geschlechtergerechten Sprache sind die Paarform (der Referent und die Referentin), das Splitting (der/die Referent/in), das Binnen-I (ReferentIn), der Gender Gap oder Gender Star (Referent_innen oder Referent*innen), sowie die geschlechtsneutrale Personenbezeichnung (die referierende Person).
Die Verwendung des Gender Stars/Gaps sowie die geschlechtsneutrale Personenbezeichnung bezieht dabei auch die Menschen mit ein, die sich nicht mit den binären Geschlechtsidentitäten Cis-Mann oder Cis-Frau identifizieren. Der „Gap“ bzw. der „Star“ steht repräsentativ für diese Menschen und wird beim Sprechen durch eine kurze Pause (Glottisschlag) bedacht.
Was sagt die Wissenschaft?
Wie wir sprechen bedingt wie wir denken und somit handeln: unsere Lebensrealität wird durch unsere Sprache beeinflusst.
So trauen Grundschulkinder weiblichen[1] Personen eher das Ausüben von stereotypisch männlichen Berufen zu, wenn die Berufsbezeichnungen geschlechtergerecht formuliert sind, wie der Wissenschaftler Dries Vervecken im Zuge seiner Dissertation an der Freien Universität Berlin herausfand (vgl. Vervecken et.al 2012, S.43). Vervecken händigte Grundschulkindern Fragebögen mit Aufzählungen von stereotypisch männlichen, weiblichen* und geschlechtsneutralen Berufen mit einer kurzen Beschreibung der Tätigkeit aus. Der einen Hälfte der Kinder wurde eine Fragebogenfassung in geschlechtergerechter Sprache, der anderen Hälfte eine Fassung, die im generischen Maskulinum verfasst wurde, ausgeteilt. Die passende Frage zu den Fragebögen lautete: „Wer kann in diesem Beruf Erfolg haben?“ Die Scala mit den Ankreuzmöglichkeiten reichte von dem einen Extrem „nur Männer“ hinzu „nur Frauen“. Das Ergebnis ist eindeutig: Alle Geschlechter schätzten den Erfolg von Männern und Frauen ausgewogener ein, wenn die Berufsbezeichnungen in geschlechtergerechter Sprache vorlagen. Frauen wurden durch Sprache sichtbar gemacht und die Möglichkeit, dass auch Frauen stereotypisch männliche Berufe ausführen können, durch die geschlechtergerechte Berufsbezeichnung belegt und als Möglichkeit dargestellt.
Grenzen der geschlechtergerechten Sprache
Allerdings zeigt die Studie von Dries Vervecken auch die Grenzen der geschlechtergerechten Sprache auf. In einem weiteren Experiment mit anderen Grundschüler*innen trauten sich diejenigen Kinder, denen die geschlechtergerechten Berufsbezeichnungen ausgehändigt worden waren, eher zu, einen stereotypisch „männlichen“ Beruf auszuüben, als die Kinder, denen die Berufsbezeichnungen im generischen Maskulinum vorlagen. Die stereotypisch „männlichen“ Berufe wurden durch die geschlechtergerechte Formulierung als leichter ausführbar und erlernbar eingeschätzt. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass bereits Grundschulkinder gelernt haben, „männlich besetzte Aufgaben mit höherer Schwierigkeit zu assoziieren“ (Klostermann 2015, S.1). Diese gesellschaftlichen Zuschreibungen werden durch geschlechtergerechte Sprache zwar aufgedeckt, jedoch nicht gelöst. Geschlechtergerechte Sprache reicht somit nicht als einziges „Handwerkszeug“ aus, wenn es darum geht, die gesellschaftlich tief verankerte Geschlechterungerechtigkeit aufzubrechen. Geschlechtergerechte Sprache kann gesellschaftliche Normen aufzeigen, Missverständnisse durch fehlende Geschlechtsrepräsentation vermeiden, Betroffene empowern sowie Sensibilität und Sichtbarkeit für alle Geschlechter schaffen, jedoch nicht die tief in unserer Gesellschaft verankerte Geschlechterungerechtigkeit beenden, da diese systematisch und sozialisatorisch bedingt ist. Bildung, Systemkritik und -wandel, sowie das in den Vordergrund stellen der Lebensrealitäten der Betroffenengruppen muss somit Bedingung sein, wenn es darum gehen soll, die ungerechten Verhältnisse abzubauen.
„Solche Videos sind der Grund dafür, dass ich an meiner Sprache garnichts ändern werde“, habe ich am Anfang dieses Kommentars zitiert. Ich hoffe, dass ich mit diesem Artikel vielleicht die ein oder andere vorher skeptische Person davon überzeugen konnte, dass geschlechtergerechte Sprache ihre Daseinsberechtigung hat und angewendet werden sollte. Wie sieht es bei euch aus? Versucht ihr, geschlechtergerecht zu sprechen oder zu schreiben?
[1] Die Studie bezieht sich auf das binäre System Mann/Frau. Andere Geschlechter wurden nicht einbezogen.