Zwischen Besinnung und Konsum - Eine Reportage über Thanksgiving und Black Friday auf die amerikanische Art
Eine Reportage von Leonie Stoll
Thanksgiving mit der Familie
Im ganzen Haus herrscht ein hastiges Hin und Her. Meine Gastmutter geht aufgeregt die Schränke in der Küche durch. Mein Gastvater schnappt bereits seine Jacke und ist auf dem Weg in die Garage. Von oben erklingen hastige Schritte, denn meine beiden Gastschwestern sind noch dabei sich schick zu machen. Mittendrin stehe ich.
Es ist Thanksgiving, der vermutlich bedeutendste Feiertag hier in den Vereinigten Staaten. In mir herrscht Vorfreude. Freude auf das gute Essen, das Treffen mit den mir noch nicht bekannten Familienmitgliedern, auf das Miterleben der amerikanischen Kultur. Wie der Großteil der Familien in den USA kommen auch wir heute alle zusammen. Mit wir meine ich meine amerikanische Gastfamilie und mich. Sie lassen mich teilhaben an ihrem Fest der Dankbarkeit. Nicht unüblich ist es, für das familiäre Beisammensein mehrere Stunden der Anreise auf sich zu nehmen. Jeden vierten Donnerstag im November versetzt Thanksgiving so ein ganzes Land in Bewegung. Für uns ist der Weg glücklicherweise nicht weit. Nur eine knappe Stunde entfernt, in Springfield im Bundesstaat Illinois, warten die Anderen auf uns.
Bereits am Morgen habe ich mir die jährliche Thanksgiving Parade New Yorks gemeinsam mit meinen Gasteltern im Fernsehen angesehen. Der ganze Trubel wirkte doch etwas befremdlich, schließlich saßen wir entspannt im Schlafanzug auf der Couch und tranken Tee. Der Umzug fand erstmals 1924 statt und zeigt seither jedes Jahr beeindruckende Ballonfiguren. Tausende sind live in New York dabei, während wir zu dritt auf unserer Couch im ruhigen Mittleren Westen dem Treiben folgen. Doch bereits jetzt, kurz vor Abfahrt, ist der Trubel auch bei uns im Haus eingekehrt.
Meine Gastmutter fragt mich im Auto erwartungsvoll ob ich schon aufgeregt sei. Tatsächlich ist die Aufregung im Vergleich zu heute morgen in mir angestiegen. Es ist eines der Highlights meines Auslandsaufenthaltes in den Vereinigten Staaten von Amerika. Trotzdem gehe ich ohne große Erwartungen in den Tag. Lasse mich treiben vom Trubel und „Spirit“ der Dankbarkeit.
Schon einige Tage vor Thanksgiving erklärte mir mein Gastvater, dass auch er, der für eine kanadische Firma arbeitet, diesen Tag frei hat. Es ist nicht ausschließlich ein amerikanisches Fest. Seinen Ursprung findet es jedoch in den Vereinigten Staaten in Plymouth, Massachusetts. Dort halfen die Ureinwohner den britischen Einwanderern den harten Winter zu überleben. Als Zeichen der Dankbarkeit luden die Gründerväter die Ureinwohner zu einem Festessen ein. Die Tradition von Thanksgiving war geboren.
Als wir endlich ankommen in Springfield ist es gleichzeitig ein Blick in die Vergangenheit meiner Gastmutter. In Erinnerungen schwelgend erzählt sie mir zu jedem Ort, an dem wir vorbeifahren, was sie dort bereits erlebt hatte. In der Straße des Hauses ihrer Schwester, können wir bereits den Truthahn im Smoker vor der Garage stehen sehen. Es dampft und mir wird klar: das wird ein Festmahl. Schon beim ersten Thanksgiving soll man Truthahn, aber auch andere Wildtiere wie Hirsche aufgetischt haben.
Freudig werden wir erwartet. Die Gastfreundschaft scheint in der Familie zu liegen, denn jeder begrüßt mich mit offenen Armen und offenem Herzen. Drinnen wird das Essen in der Küche angerichtet. Der Tisch im Wohnzimmer hinter der Küche ist gedeckt. Auf der Couch tummeln sich die Onkel und Cousinen meiner Gastfamilie. Sie schauen gemeinsam eines der Footballspiele. Ein Thanksgiving ohne ein Spiel der National Football League ist wie ein Thanksgiving ohne Truthahn. Wie viele davon für den heutigen Tag geschlachtet wurden, mag ich mir nicht vorstellen. Jedoch wird jedes Jahr ein Truthahn verschont. Er wird symbolisch dem Präsidenten im Weißen Haus übergeben und findet in diesem Jahr nicht sein Ende. Meine Gast-Cousinen sind über die Feiertage vom College nach Hause gekommen. Die Universitäten geben das ganze verlängerte Wochenende frei. Die meisten Arbeiter nehmen sich ebenfalls den Brückentag zwischen Thanksgiving und dem Wochenende, um an ihm shoppen zu gehen. Er ist bekannt als Black Friday. Eine der beiden anwesenden Cousinen lerne ich zum ersten Mal kennen. Voller Vorfreude berichtet sie mir von ihrem Vorhaben eines Auslandsaufenthaltes in Spanien. Es lässt mich in Erinnerungen daran schweben, welches emotionale Wirrwarr in mir vor meiner Ausreise vorging.
Meine Gastmutter ruft zum Essen und nach und nach findet sich jeder am Tisch ein. Der Truthahn duftet aus der Küche hinüber ins Wohnzimmer. Mein Gastvater übernimmt das diesjährige Tischgebet. Als sich alle an den Händen fassen, entsteht ein Gefühl von Gemeinschaft. Seine Worte stimmen mich ein in die Dankbarkeit und Freude, die dieses Fest begleiten. Dann darf jeder aufstehen und sich Essen nehmen. Zu meiner Verlegenheit soll ich beginnen, frei nach dem Motto der Gast ist König. Also fülle ich meinen Teller mit Mais, Auflauf, Soße, Kartoffelbrei, Truthahnfüllung und natürlich Truthahnfleisch – all den typischen Köstlichkeiten dieses Feiertages. Beim Essen beginnen wir der Reihe nach aufzuzählen, wofür wir dieses Jahr besonders dankbar sind. Im Angesicht der Tatsache, dass ich gerade an den Traditionen einer fremden Familie, die den halben Globus entfernt von meinem Zuhause wohnt, teilnehme, fällt es mir nicht schwer etwas zu finden wofür ich dankbar bin. All die lieben Worte machen mich ganz emotional. Ich genieße die Atmosphäre. Zum krönenden Abschluss gibt es süßen Apfel- und Kürbiskuchen.
Vollgegessen sitzen wir später beisammen und unterhalten uns. Zwei Tanten besprechen ihren Plan noch heute Abend aufzubrechen und die frühesten Rabatte im Rahmen des Black Fridays zu nutzen. Nicht nur die Rabatte sollen diesen Tag so verrückt machen, berichten die Familienmitglieder.
Black Friday: Wahnsinn nach der sinnlichen Familienzeit
Es stellt sich heraus, sie haben nicht übertrieben. Es ist zehn Uhr morgens. Das Kaufhaus ist zum Brechen voll. Überwältigt von allem, was sich gleichzeitig abspielt, mache ich mich auf meinen Weg durch das Getümmel. Hier und da entdecke ich paar gute Angebote und beschließe zuzuschlagen. Als ich dann jedoch auf die Schlangen an der Kasse blicke, überlege ich mir das nochmal genauer. Ganze zwei Stunden, heißt es, würde man anstehen. Ich suche etwas verloren nach meiner Gastmutter und meiner Gastgroßmutter, die uns begleitet haben und wir beschließen einheitlich unsere Shoppingtour wo anders fortzusetzen.
Gegen zwei Uhr nachmittags sind wir bereits geschafft von all dem Herumsuchen und kehren mit einer großen Ausbeute zurück nach Hause. Eine Stärkung und Verschnaufpause sind dringend nötig.
Am Abend verbringe ich eine ganze Stunde damit, die Erlebnisse dieser beiden speziellen Tage zu Papier zu bringen. Das gute Gefühl Teil einer weiteren Familie zu sein, erfüllt mich, aber auch das Erschrecken über die Ausmaße des Shoppingchaos. In Deutschland wird weder Thanksgiving, noch der Black Friday so ausgiebig zelebriert. Schade eigentlich, denn in meinen Erfahrungen spiegelt sich die Kraft der Dankbarkeit wider. Klar und deutlich steht in meinem Tagebuch nun, wie froh ich bin, solch eine Möglichkeit zu haben, eine Kultur hautnah mitzuerleben. Es besinnt einen auf das Wichtige im Leben, auch wenn der Konsum des Black Fridays das wieder in den Schatten stellt. In Gedanken stelle ich mir bereits vor, wie wir das Festessen nächstes Jahr auch in meiner Familie in Deutschland umsetzen können.
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